Holakratie im Spotlight – Interview mit Thomas Heiserowski, Europace

Im Sommer hatte ich das große Vergnügen mich über drei Stunden mit Thomas Heiserowski unterhalten zu dürfen. Thomas ist einer der zwei Geschäftsführer von Europace. Als Tochter der Hypoport AG vermittelt das Fintech Baufinanzierungen und Ratenkredite.
Im Rahmen meiner Arbeit suche ich immer wieder nach Gelegenheiten Unternehmen zu ihrer ganz persönlichen Geschichte der Organisationsentwicklung zu befragen, individuelle Feinheiten zu verstehen und neue Muster zu entdecken. Auf Europace war ich neugierig, weil sie eine der relativ großen Firmen in Deutschland sind, die Holakratie eingeführt haben und gerne dabeibleiben. Holakratie ist eine besonders ausgearbeitete Form des Selbstmanagement – eine Einführung zum Nachlesen gibt es z.B. hier.

Normalerweise mache ich diese Interviews „for my own record“ – diesmal jedoch kamen wir überein, ein paar spannende Perspektiven aus unserem Gespräch zu veröffentlichen.

Wie ist Holakratie bei Europace entstanden?

Der eigentliche Auslöser war die Softwareentwicklung: Um die Komplexität zu beherrschen ist es notwendig vom Kunden aus zu denken. Das erfordert unter anderem eine strukturierte Entscheidungsfindung „von unten“. Aufgrund der persönlichen Einstellung von Thomas und einigen anderen Europace-Mitarbeitern sowie den Erfahrungen aus einigen spannenden, aber letztlich gescheiterten isolierten Experimenten, kam die Frage auf: Warum nicht grundsätzlich mal ganz anders?

Spannend fand ich die ersten Schritte der Einführung: Zuerst ungerichtete „Teaser“-Seminare für ein gutes Drittel der Belegschaft, in denen die Mechanismen der Selbstorganisation vorgestellt wurden. Nachdem die Neugier geweckt war, folgten ein bis zwei Posts der Geschäftsführung, die das Thema zur Debatte stellten, sowie ein Zwei-Tages Seminar „Tell me why it wouldn’t work“. Auf dieser Grundlage kam es dann zu einer strukturierten Einführung des Kernelements von Holakratie: Kreise – ursprünglich schrittweise geplant, aber dann parallel für alle, weil alle sofort mitmachen wollten. Im Anschluss ging es eher „klassisch“ weiter – gestützt durch Begleitung von externen und internen Beratern, durch eine klare, gemeinsame innere Haltung der Geschäftsführung, durch einen klaren Kreis von Unterstützern und durch die Erfolge auf dem Weg.

 

Was sieht jetzt anders aus als in „traditionellen“ Unternehmen?

Auf den ersten Blick sieht die Bereichsaufteilung fast genauso aus wie gewohnt. Erst auf den zweiten Blick zeigen sich tiefergehende Unterschiede: Einzelne MitarbeiterInnen haben mehrere Rollen anstatt nur eine, die Zentralfunktionen sind sehr tief in das Operative integriert, das Unternehmen kann sehr gut mit laufenden Veränderungen umgehen, und die Entscheidungsfindung liegt im Wesentlichen bei den einzelnen Teams. Aus Kundensicht fallen wechselnde Ansprechpartner auf, es wird weniger auf „die Chefs“ zurückgegriffen, MitarbeiterInnen ohne Titel sind AnsprechpartnerInnen, und es wird intensiver zusammengearbeitet.

Insbesondere möchte ich den Umgang mit dem erweiterten Führungskreis als Impuls hervorheben. Es wird ja viel diskutiert, was in selbstführenden Organisationen aus dem „mittleren Management“ wird. Führungspersonen verschwinden nicht, nur weil man Stellen abschafft – das ist meine Erfahrung. Sie manifestieren sich nur anders, informeller, durch Kompetenz, Einsatzbereitschaft und andere Themen. Die wesentliche Frage ist: Wie kann ich diese einbinden? In kleineren Gruppen können diese Persönlichkeiten einzeln wirken – um ihre Wirkungskraft für die gesamte, größere Organisation zu nutzen, brauchen sie einen gewissen „institutionellen“ Rahmen. Europace hat angefangen ein „Strategiekreis“ aufzubauen, der nicht so klar strukturiert ist wie andere Kreise, sondern ein Forum ist, in der diese Führungspersonen Raum finden, gemeinsam etwas voranzutreiben – und zwar dort, wo Lücken sind oder Räume für Ideen.

 

Wie ändern sich die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen?

Diese Frage hat mir vielleicht am meisten Impulse mitgegeben. Jede/r einzelne muss sehen und sagen können, was er oder sie braucht – dafür brauche ich ein gutes Verständnis für das eigene Wollen und Können. Gerade als jüngerer Mitarbeiter brauche ich Vorbilder, von denen ich lernen kann. Jede/r geht anders mit Freiheiten um. Das sind alles hohe Ansprüche, wie kann man das organisieren?

Thomas sagt dazu: „Man muss wissen, welche Themen man sich mit dieser Organisation an Bord holt“. Mitarbeiterinnenentwicklung – in ganz anderen Dimensionen – wird überlebenswichtig. Europace hat eine Vollzeit-Psychologin, investiert viel in Mentoren und Coaches, sowie in regelmäßige Fachtrainings und Bestandsaufnahmen. Gleichzeitig bleibt es eine permanente Herausforderung.

 

Was bleibt für die Zukunft?

Ein paar Herausforderungen wurde schon angesprochen: Führungskreis, Mitarbeiterentwicklung. Darüber hinaus finden sich ähnliche Themen wie in anderen Unternehmen: Vision, Strategie, Metriken, Produktentwicklung. Holakratie löst Themen nicht von alleine, sondern zeigt eher Probleme auf, und bietet andere Möglichkeiten Themen zu lösen. Vision und Strategie zum Beispiel: Der Bedarf nach Rahmen steigt, weil die Teams autonomer arbeiten. Gleichzeitig steigt auch das Misstrauen und die Aversion gegen diese Rahmengebung, weil sie die Autonomie potentiell einschränkt. Gute Metriken bleiben genauso eine harte Nuss wie überall – man kann sich nur weniger leicht mit nicht zu guten Metriken „durchmogeln“. Und für gute Produktentwicklungsplanung hat Holakratie auch kein Patentrezept.

 

Damit wird für mich auch wieder deutlich, dass es nicht die „passende“ Organisationsform gibt, sondern der Weg von der eigenen Haltung abhängt: Wie will ich in meiner Organisation leben? Und bin ich bereit die Konsequenzen zu akzeptieren und hart daran zu arbeiten?

Was ist Ihnen wichtig für Ihre Organisation? Was müßten Sie dafür angehen? Und was hält Sie davon ab diesen Weg zu gehen?