Der Preis hoher Mitarbeiteridentifikation

Heute möchte ich mich – passend zur Sommerpause, in der ich ein wenig mehr Zeit zum Lesen hatte – mit einem Buch beschäftigen. Es geht um das Buch „Das Regenmacherphänomen von Stefan Kühl, der als Professor und Organisationsberater tätig ist. Kühl kritisiert im Kern das Paradigma der lernenden Organisation: Es sei eine Illusion, dass es eine stabile Organisation bei permanentem Wandel geben kann, bzw. dass es keinen „klassischen“ Change mehr zu geben bräuchte. Dabei gibt er einleitend, links und rechts, greifbare, praktische und theoretische Einblicke in die verschiedenen Organisationskonzepte. Eine aus meiner Sicht gute Zusammenfassung des Buches gibt es hier. Die Lektüre des Buches selber kann ich ebenso empfehlen, auch wenn ich an mancher Stelle eine andere Vorstellung von lernender Organisation habe.
Herausgreifen aus dem Buch möchte ich das Thema „Identifikation“, um nicht zu viel Schwere in Ihren Sommer zu bringen…

Tiefergehende Identifikation von Mitarbeiterinnen mit dem Unternehmen ist ein Kernthema der lernenden Organisation und der meisten „neuen“ Organisationskonzepte. Laut Kühl liegen die wesentlichen Vorteile der Identifikation darin, dass sie die Innovationsfähigkeit und Effizienz steigert, die Kontrollnotwendigkeit reduziert und Mitarbeiter gerade in Zeiten des Wandels an das Unternehmen bindet.
Dem gegenüber steht der Nachteil, dass die Organisation weniger flexibel und weniger offen für grundlegenden Wandel wird. Das klingt auf den ersten Moment überraschend. Doch vielleicht nicht mehr auf den zweiten Blick: Wenn ich mich mit etwas identifiziere, bin ich davon tief überzeugt. Wenn ich es ändern soll, geht das an meine Substanz, an meine Grundwerte. Diese Veränderung ist tiefgreifend.

Kühl fasst damit ein Thema in wenige Worte, welches mir immer wieder begegnet – in Start-ups, im Mittelstand, in sozialen Organisationen und zwar mit unterschiedlichen Aspekten, jedoch der gleichen „Grundstimmung“. Organisationen mit starker Identifikation sind sehr offen und sehr aktiv, wenn es um Veränderungen geht, die ihre Grundüberzeugung unterstützen. Die Menschen bringen sich „ganz“ ein, wollen etwas für sich erreichen, wollen sich auch entwickeln.
Doch die Identifikation hat eben auch ihren Preis. Werden Elemente der Identifikation in Frage gestellt (oder vermeintlich in Frage gestellt), reagieren die Organisation und ihre Mitglieder sehr starr, sie machen zu, werden „fundamental“ – ein großer Bruch droht. Außerdem werden schon vorher Signale ignoriert, die eine Veränderungsdiskussion überhaupt erst aufkommen lassen könnten. Aus Dynamik wird Beton.

Jetzt kommen wir um dieses Dilemma vermutlich nicht herum. Wichtig ist allerdings, sich dieses Problems bewusst zu werden um vorbeugen, reagieren oder abwägen zu können – zum Beispiel am Anfang einer Reise, wenn es darum geht Identifikation zu schaffen. Von welchen Identifikation-stiftenden Themen lassen wir lieber die Finger, weil wir die vielleicht doch später verändern wollen oder müssen? Womit sollen sich die Mitarbeiterinnen explizit NICHT identifizieren?  Welche blinden Flecken können entstehen, weil bestimmte Fragen nicht gestellt werden „dürfen“?
Oder während der Veränderung, wenn es darum geht den Prozess zu steuern: Womit identifizieren sich die Mitarbeiter eigentlich? Wo greift die Veränderung eine Identifikation an? Können wir die Veränderung anders aufsetzen oder vermitteln, so dass die Kernüberzeugung nicht in Frage gestellt wird? Wo müssen wir in den Bruch gehen, weil ohne die neue Überzeugung das Unternehmen nicht funktioniert?
Manchmal sagt man so salopp: „die können vom Alten nicht lassen“. Dabei denkt man selten daran, dass auch das Neue bald genauso ein Hindernis werden kann wie „das Alte“.

Wie sehen Sie das? Konnten Sie das auch schon beobachten? Alter Wein oder Impuls zum Nachdenken? Welche „Identifikationen“ können bei Ihnen ungewollt zum Hemmnis im Wandel werden?