Agilität in der Krise?

Die letzten Tage und Wochen habe ich viele gute Artikel zu Führung in Krisenzeiten gelesen, und ich dachte mir eigentlich: alles ist gesagt, gut gesagt: Reflexionen, praktische Hilfen, Impulse.
Doch beim zweiten Blick fehlte mir etwas: Ich habe sehr viel Rückbesinnung auf einzelne Führungspersonen gesehen, auf deren individuelle Fähigkeiten, emotionale Intelligenz, Entscheidungen; alles sehr wertvoll, und gleichzeitig Renaissance des „Leaders“ – typischer Reflex in einer Krise kann man sagen
Ich habe mich gefragt: wo bleibt Agilität in der Krise, wo bleiben selbstführende Strukturen, leadership beyond the individual leader? Sind sie überflüssig, schädlich, selber in der Krise oder hilfreich? Diese Debatte anzustoßen, ein paar Impulse zu geben, reizt mich nun doch. Ich glaube, dass agile und selbstführende Strukturen gerade jetzt sehr hilfreich sind – als zentrales Führungsinstrument, weil sie über die individuellen Fähigkeiten Einzelner hinausgehen, sowie strukturell und kurzfristig neue Möglichkeiten schaffen.

Ein zentrales Element der momentanen Krise ist, dass ihr Verlauf an vielen Stellen für das eigene Unternehmen nicht vorhersagbar, nicht planbar, in höchstem Maße unsicher ist: Wie lange dauern die Maßnahmen und auf welchem Weg werden sie aufgehoben? Wie gehen ihre Mitarbeiter/innen mit der Situation um? Wie reagieren ihre Kunden? Wie arbeiten sie zusammen, wenn so viele remote im Homeoffice oder in unterschiedlichen Schichten arbeiten?
Diese Unsicherheit („VUCA2“) ist eigentlich der passende Kontext für selbstführende, agile Prozesse und Strukturen:

  • Dezentrale Entscheidungen um täglich, situativ und schnell reagieren zu können.
  • Kleine Teams, die sich in dieser Situation gut vernetzen können, auf unterschiedliche Themen und Arbeitsrhythmen fokussieren können und in die jede/r ihre/seine eigenen Fähigkeiten einbringen kann.
  • Kleine Teams, in denen sich die einzelnen gegenseitig sowohl emotional als auch inhaltlich umeinander kümmern und so die Führungsaufgaben besser verteilt werden können.
  • Kreativität, Testen und Ausprobieren, weil man etwas ganz Neues suchen muss und nicht weiß, ob und wie eine Lösung funktioniert.
  • Delegation & Verteilung um die Führungsfähigkeit zu erweitern: vorhandene Fähigkeiten zu entdecken und einzubinden geht schneller als einzelne Menschen zu ändern.
  • Institutionalisiertes Lernen in den Teams, direkt aus den Erfahrung und auch direkt umgesetzt

So weit zur Theorie. Aus der Praxis möchte ich auf zwei große Einwände eingehen:
Erster Einwand: Wenn wir bisher keine Erfahrungen mit agilen, selbstführenden Strukturen hatten, können wir uns dann mitten in der Krise leisten, mit neuen Prozessen zu experimentieren – insbesondere mit einem grundlegenden Systemwechsel, dessen Change-Begleitung sehr herausfordernd ist?
Zweiter Einwand: Man sieht doch häufig das agile Unternehmen gerade in Krisensituationen weniger agil arbeiten, hierarchischer werden. Ist das nicht ein Zeichen, dass alles nur schöne Theorie ist?

Der erste Einwand – der Change ist zu groß und damit zu risikoreich – ist aus meiner Erfahrung eine der großen Mythen zum Thema Agilität und Selbstführung. Der Weg zu Agilität und Selbstführung ist selber agil und selbstführend: In kleinen Schritten, gezielt ausprobierend, lernend, erweiternd. Solange Sie nur das Grundprinzip eines Sprints einhalten (Planung – Sprint – Review & Retro – Anpassung, gute Moderation), ist das Risiko sehr beherrschbar, das Ziel offen, vieles denkbar und machbar, genau zu den eigenen Bedürfnissen passend.
Und in einer Krise sind die Sprints einfach sehr viel kürzer – eine Woche, manchmal nur Tage. So ist Raum für viele kleine Schritte, viel Flexibilität. Zum Beispiel:

  • Das Führungsteam arbeitet selber im agilen Sprint Modus – das Management Meeting wird zur Planning, Review & Retro Session
  • KanBan Boards – ein Tool schon aus früheren Zeiten, sehr passend und einfach
  • Bewusst Raum geben für einzelne Teams, die selbstständiger arbeiten wollen und fragen, an welchen Punkten sie Unterstützung brauchen
  • Auf die Themen fokussieren, die gerade passend in der „Größe“, im Thema erscheinen, handhabbar, beeinflussbar, und dafür Teams suchen

Alles was Sie brauchen ist ein Moderator, fokussiert, mit begrenztem zeitlichen Aufwand. Wenn Sie es dann noch schaffen die Learnings gut einzusammeln, und sich eine oder mehrere Personen finden, die gerne etwas moderieren, dann können sich die kleinen Schritte auch sehr gut skalieren lassen.

Der zweite Einwand – auch agile Unternehmen werden hierarchischer in der Krise – löst sich, wenn man eines der anderen, großen Missverständnisse bei Agilität hinterfragt: Agilität sei gleich Freiheit und Kreativität, und Agilität ließe sich nicht mit anderen „Methoden“ mischen.
Beides sehe ich anders. Agilität lässt sich gut – und auch notwendiger Weise – mit hoher Prozessdisziplin und klassischen operativen Managementmethoden kombinieren. Nur tun dies gerade Startups in der Regel nicht.
In der Praxis, gerade bei Krisenmanagement, sind vier einfache Ergänzungen sehr hilfreich, die die Selbstführung stabilisieren und erweitern:

  • North Star: Die große Linie, was wollen wir, das why-how-what. Er kann einen 3-Monats- oder 12-Monatshorizont haben, er kann sich auf ein Team wie die ganze Firma beziehen. Er kann ein kurzes Dokument sein, vielleicht sogar nur eine North Star Metric. Der North Star muss nicht viel Zeit kosten am Anfang, erspart aber viel Abstimmung später, da er die gemeinsame Orientierung vorgibt.
  • Klarer Delegationsrahmen: Was sind die absolut kritischen Themen und Entscheidungen, die nicht isoliert gefällt werden dürfen, sondern mit anderen abgestimmt werden müssen.
  • Klassisches Projektmanagement: Es gibt viele Situationen, an denen große Teile des Unternehmens konzertiert arbeiten müssen, Hand-in-Hand, ohne große Freiheiten. Das läuft weiterhin, gibt (wo nötig) den Rahmen für kleinere agile Themen, wie auch lean teams in der Produktion ihren Platz finden.
  • Controlling: Agilität wird oft zu lax gehandhabt, weil inhaltliche Freiheit mit laxer Umsetzung gleichgesetzt wird. Controlling ist jedoch genauso notwendig, nur anders: Prozesse, Rahmen, KPIs die sich das Team selber setzt.

Auf diesem Weg – in kleinen Schritten, ergänzt um ein paar übergreifende Prozesse – sehe ich in agilen, selbstführenden Strukturen mehr Chancen als Risiken, auch oder gerade in einer Krise. Sie können nicht nur an sich selbst arbeiten, sondern über Strukturen & Prozesse die Führungsfähigkeit Ihrer Organisation skalieren.

Wie nehmen Sie die Debatte zurzeit war? Sehen Sie Agilität in der Krise oder sehen Sie Agilität und Selbstführung als Chance in der Krise? Sehen Sie das Ausprobieren als Illusion oder als Potenzial in so einer Situation?